Lass und reden #4 – sprachlos
„Hey, hast dich aber lang nicht gemeldet“
„Wusste nicht, was ich sagen soll.“
„Wie meinst du?“
„Ich war sprachlos. Sprachlos über das, was derzeit so abgeht in der Welt. Einfach unglaublich, dass so etwas überhaupt möglich ist. Wie konnten wir nur so weit kommen.“
„Unglaublich, ja.“
„König Ubu, wie ihn Latour treffend nennt, ist schließlich nicht irgendwer, sondern Präsident der größten Wirtschaftsmacht. Was er tut hat Auswirkungen auf die ganze Welt, auf uns alle.“
„Sind eh alle in Aufruhr, die Börse rasselt, die Regierungen reagieren erstmal in ihrem Habitus, hart oder zögerlich. Man weiß einfach nicht, wie man auf vernünftige Art und Weise reagieren soll. Auf den ersten Blick scheint es ja alles völlig daneben. Aber… vielleicht ist es einfach der Endsieg des Neoliberalismus.“
„Der Endsieg des Neoliberalismus?“
„Ja, er hat sich doch in den letzten Jahrzehnten in sämtlichen Lebens- und Berufsfeldern breit gemacht, öffentliche Leistungen von innen heraus und durch Druck von außen ökonomisiert oder ausgeschalten, NGOs und Gewerkschaften aufgemischt und sich bis in die persönlichen Beziehungen hineingeschlichen. Und jetzt übernimmt er offiziell und unverfroren die Weltherrschaft.“
„Aber das ist doch nicht neoliberal. Ist doch eine Minus-Globalisierung.“
„Nein? Was denn sonst? Einem von einem Angriffskrieg geknechteten Land presst er die Rohstoffe ab. Land egal, Staat egal, Menschen egal, Leiden und Sterben egal, es geht um den Profit. Ohne Rücksicht auf irgendwas oder irgendwen. „
„Ja, das ist schon unglaublich.“
„Leise und unbemerkt, aus den Hinterzimmern heraus, hat es ab Mitte der 1970er Jahre schon angefangen. Jetzt liegt alles offen da, mit der ganzen Wucht unfassbarer Brutalität, eine klaffende Wunde in der Welt.“
„Ich fühl mich oft emotional überfordert.“
„Nämlich von diesen vielen Geschehnissen und der Schnelligkeit mit der das vor sich geht. Ist ja nicht nur King Ubu. Der Völkermord im Gazastreifen ist unerträglich. Und die Welt schaut zu. Die von Kriegen begleitete neokoloniale Ausbeutung Afrikas. Die Regionen im globalen Süden, die am intensivsten von der Klimakatastrophe betroffen sind, obwohl sie am wenigsten dazu beigetragen haben, Land und Menschen ausgebeutet, von ein paar profitgeilen Konzernen. Überall auf der Welt gibt es Krisenherde. Krieg streckt seine Fühler aus und kündigt sich an, wo er nicht schon herrscht. Die Klimakatastrophe heizt zusätzlich an. „
„Ich weiß nicht. Ich glaub da immer noch dran, dass die Menschen letztlich vernünftig werden, bevor sie sich selbst vernichten.“
„Letztlich vernünftig – das ist ein schöner Gedanke. Aktuell gehen wir aber einer mühsam erworbenen Zivilisation, die sich an Menschenrechten, Demokratie und Solidarität orientiert, verlustig. Von der Politik, so scheint es jedenfalls, braucht man sich nichts erwarten. Wenn, dann kommt der Wandel von unten. Die Zivilgesellschaft wäre gefragt.“
„Jetzt fängst du aber nicht wieder an mit ’system change‘.“
„In den letzten Wochen hat sich doch an den Vorgängen der Börsen klar gezeigt, dieses System ist falsch. Wie man es dreht und wendet, dieses Finanzmarktsystem ist falsch. Es ist eines der Grundübel auf dem die giftigen Charaktere wachsen. An der Börse gibt es nämlich nur einen einzigen Wert, der zählt: Geld. Alles andere ist ausgeblendet. Du musst denken, es ist ein Glücksspiel. Ein Glücksspiel mit Unsummen Geld, das die meiste Zeit nur virtuell ist. Real sind aber die Folgen. Steigen durch Börsenspekulationen die Preise für Reis und Weizen, hungern und verhungern reale Menschen. Solche Folgen sind ausgeblendet. Börsianer leben in einer eigenen Welt, in der die Supralogik Gewinnmaximierung lautet.“
„Schon, aber hat der Kapitalismus nicht auch viel Wohlstand in die Welt gebracht? Vor allem für die Industrieländer, sicher. Aber zeitweise waren immerhin auch Armut und Hunger weltweit reduziert.“
„Wieder so ein schöner Gedanke. Doch der Verlauf ist eindeutig: Die Schere zwischen arm und reich geht immer weiter auseinander und erreicht Dimensionen, von denen der Sonnenkönig nur hätte träumen können. Wenige häufen unheimlichen Reichtum an und viele leben in Armut. Ergebnis und Grundlage des neoliberalen Kapitalismus. Und aktuell haben wir zudem eine nicht unbekannte Entwicklung. Autoritäre bis rechtsextreme Systeme verbünden sich mit dem Großkapital. Das kann im wahrsten Sinn des Wortes tödlich sein.“
„Unzulässiger Vergleich.“
„Kein Vergleich, sondern Tatsache. Traurige Tatsache.“
„Und jetzt?“
„Ja und jetzt. Die Ereignisse verzwirbeln den Kopf und fressen an der Seele. An manchen Tagen bin ich 5 verschiedene. Aber bin ich ohnmächtig? Nein.“